Ansteigende Zahl der Mädchen mit Essstörungen

Lesedauer 3 Minuten

Die ansteigende Zahl der Mädchen mit Essstörungen ist ein Weckruf für Gesellschaft, Familie und Politik

„Ich wollte nur gesünder leben – und habe fast mich selbst verloren.“
So beschreibt eine 19‑Jährige im Klinikgespräch ihren Weg in die Magersucht: alles begann mit harmlosen Fitness-Tipps auf TikTok, Rezeptideen auf Instagram und kleinen Challenges unter Freunden. Doch bald war es keine harmlose Inspiration mehr, sondern ein Zwang, der sie fast zerstörte.

Alarmierende Zahlen aus Deutschland

  • Laut dem Statistischen Bundesamt wurden 2023 rund 6 000 Mädchen und junge Frauen im Alter von 10 bis 17 Jahren aufgrund von Essstörungen stationär behandelt – das sind doppelt so viele wie vor 20 Jahren (ca. 3 000 Fälle). Ihr Anteil an allen Essstörungs‑Behandlungen stieg von etwa 23 % auf fast 50 %.
  • Die durchschnittliche Verweildauer in der Klinik beträgt etwa 53 Tage.
  • Frauen machen etwa 93 % der betroffenen Stationärfälle aus (DIE ZEIT).
  • Studien zeigen, dass typische Formen der Essstörung im Lebensverlauf bei von 1 000 Mädchen und Frauen jährlich etwa 14 Magersucht-, 19 Bulimie- und 28 Fälle von Binge‑Eating‑Störung auftreten – deutlich mehr als bei Männern (BZgA Essstörungen).
  • Internationale Daten: Laut einer systematischen Meta‑Analyse leiden rund 30 % der Mädchen im Kindes‑ und Jugendalter an gestörtem Essverhalten (SCOFF‑Maß), deutlich häufiger als Jungen (~17 %) (ResearchGate).

Pandemie und Social-Media-Einfluss verschärfen das Problem

  • Die COVID‑19‑Pandemie verstärkte den Trend: Zwischen 2019 und 2022 stieg die Häufigkeit von Essstörungen bei deutschen Jugendlichen um 51 %, teils trotz leichter Rückgänge ab 2021.
  • Eine andere aktuelle Studie dokumentiert einen Anstieg der ambulanten Prävalenz bei Mädchen um etwa 20 Punkte, von 10,5 % auf 16,7 %, sowie deutlich mehr stationäre Aufnahmen seit Beginn der Pandemie.
  • Ähnlich bewertet Beate Herpertz‑Dahlmann (Uniklinik Aachen) die Situation: Essstörungen bei Kindern im Alter von 9–14 verglichen mit 2019 um 42 % häufiger, bei 15- bis 19-Jährigen um 25 % mehr stationäre Aufnahmen.

Ursachen: Warum besonders Mädchen und warum früher?

Laut Thomas Huber, Chefarzt der Klinik am Corso (in deinem Zitat erwähnt), spielen mehrere Faktoren eine Rolle:

  • Frühere Pubertät – damit einhergehend Körperveränderungen und Identitätskrisen – gilt als Hochrisikophase für Essstörungen.
  • Social Media verstärken Körperideale und Vergleichsdruck – Plattformen wie TikTok, Instagram und Co. bieten ständig „Thinspiration“ oder Fitness‑Trends, die Jugendliche in Krankheit treiben können.
  • In der Pandemie wurden viele Jugendliche ihrer sozialen Strukturen beraubt, was Unsicherheit und Kontrollverlust verstärkte – Essen und Körper wurden zu Kontrollmitteln.
  • Ungleichheit nach Geschlecht: Bei Jungen wird häufiger die Muskelorientierung („Muskelsucht“) diagnostiziert, doch die Dunkelziffer bleibt hoch (DIE WELT).

Ansteigende Zahl der Mädchen mit Essstörungen: Körperbild, Medien und gesellschaftlicher Druck

  • Jugendliche sind durch Medien intensiv mit idealisierten, unerreichbaren Körperbildern konfrontiert. Studien belegen, dass Medien, insbesondere Modewerbung und Thin-Ideal‑Darstellungen, Körperunzufriedenheit und Essstörungen fördern.
  • Plattformen mit schwacher Moderation (Twitter/X, TikTok etc.) können toxische „Pro‑Ana“- oder Fitness‑Echo‑Chambers entstehen lassen, die gestörtes Essverhalten verstärken.

Folgen und Begleiterkrankungen

  • Essstörungen gehen selten allein – Depressionen, Angststörungen und Substanzmissbrauch sind häufige Begleiter: In einer Studie über 70 % Komorbidität bei Betroffenen.
  • Körperliche Folgen sind schwerwiegend: hormonelle Störungen, Osteoporose, Herz‑ und Zahnschäden bis hin zum Tod. Die WHO zählt Anorexie zu den gefährlichsten psychischen Erkrankungen im Jugendalter.

Frühwarnsignale: Darauf müssen Familien, Schulen und Freund:innen achten

  • Starke Gewichtsveränderungen, exzessives Abnehmen oder Überessen.
  • Ritualisierte Essensregelungen (z. B. vegane/vegetarische Ernährung im Extrem, Vermeidung ganzer Lebensmittelgruppen).
  • Sozialer Rückzug, verändertes Verhalten in Freund und Familie.
  • Zwanghafter Sport, auch bei Krankheit oder Verletzung – ein Versuch, Körper zu kontrollieren.
  • Äußerungen zur Körperunzufriedenheit, häufig mit Formulierungen wie „zu dick“.

Ansteigende Zahl der Mädchen mit Essstörungen: Was kann die Gesellschaft tun?

1. Familien stärken:

  • Offene Gespräche über Körper, Ernährung und Wohlbefinden führen.
  • Gemeinsame Mahlzeiten und positive Esskultur als Alltag fördern.

2. Schulen & Jugendeinrichtungen aufrüsten:

  • Präventionsprogramme zu Essstörungen, Medienkompetenz und Body Positivity etablieren.
  • Früherkennung durch Lehrkräfte und Schulpsycholog – und klare Wege zur Hilfe aufzeigen.

3. Online-Plattformen in die Pflicht nehmen:

  • Social Media sollten pro‑ana‑Inhalte stärker moderieren, Body‑Positivity fördern und algorithmische Empfehlungen überdenken.
  • Influencer gewinnen, realistische Körperbilder zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen.

4. Politik & Gesundheitswesen mobilisieren:

  • Stationäre und ambulante Angebote ausbauen – besonders in der Jugendpsychiatrie. Klinik am Corso hat nur 92 Plätze für ganz Deutschland.
  • Forschung fördern zu Ursachen, Prävention und digitalen Einflüssen.
  • Aufklärungskampagnen in Schulen, in sozialen Medien und öffentlichen Einrichtungen stärken.

Essstörungen bei Mädchen sind kein vorübergehendes Phänomen – sie sind eine akute, lebensbedrohliche Entwicklung, die durch frühere Pubertät, Social Media, Pandemie-Effekte und gesellschaftlichen Druck verschärft wird. Die Zahlen zeigen einen alarmierenden Anstieg, und die Betroffenen werden immer jünger.

Die zentrale Frage bleibt: Wie schaffen wir eine Kultur, in der Selbstwert, Gesundheit und Vielfalt mehr zählen als Likes, Follower oder Kleidergröße?
Es geht um unsere Kinder, unsere Gesellschaft – und eine Zukunft, in der Jugendliche in ihrem Körper nicht verloren gehen.